Mit ihrem mittlerweile vierten Studioalbum „Day Fever“ hat Cherilyn MacNeil alias Dear Reader ihr wohl bisher persönlichstes Werk herausgebracht. Diese Woche durfte Killerqueen die Ausnahmekünstlerin im Bogen F in Zürich live erleben und ausserdem nach dem Konzert noch ein Interview führen, in welchem vor allem der interessante Entstehungsprozess vom neusten Album thematisiert wurde.
Für die Projektband Dear Reader bedient sich MacNeil für jedes Album stets neuer Musiker, welche sie auf Tour begleiten. Dies hat nicht immer Vorteile, wie sie uns später im Gespräch verriet. Denn obwohl jeder Musiker und jede Musikerin ihre ganz eigenen Stärken mitbrachten und die Songs um ein Vielfaches berreicherten, erfordert es vor allem im Vorfeld einer Tour lange Probezeiten und Training, bis die Band sich zusammenfindet. Dies war für sie als Songschreiberin immer ein sehr arbeitsintensiver und anstrengender Prozess. Für Day Fever gründete MacNeil kurzerhand eine „Girlgroup“ bestehend aus Evelyn Saylor (Gesang und Synthie), Stella Veloce (Gesang und E-Cello) sowie Olga Nosova (Gesang und Perkussion). Allesamt hochtalentierte Musikerinnen und begnadete Sängerinnen, wie sich am Konzert deutlich herausstellte. MacNeil erwähnte, dass sie nur Evelyn Saylor schon länger aus Berlin kannte, da sie beide sich öfters trafen um gemeinsam zu singen. Mit Veloce und Nosova, die sie ebenfalls in der multikulturellen Hauptstadt kennen gelernt hatte, war das gemeinsame Musizieren völlig neu. Dies führte auch zu Beginn der Tour zu viel aufgeregter Spannung und Nervosität während der Konzerte, wie MacNeil beteuerte. Sie hätten immer „leicht am Abgrund“ gestanden, meinte sie, aber schlussendlich ist alles immer gut ausgegangen. Am Konzert in Zürich, ziemlich genau in der Mitte der Europa-Tour, hätten sie sich nun schon wunderbar zusammengerauft und sowieso: bisher machte die Tour unglaublich viel Spass, was ja das Allerwichtigste ist.
Die Setlist an diesem Abend im Bogen F wurde dann auch von ihren neusten Songs dominiert. Warum dieses ihr bisher persönlichstes Album geworden ist, erklärte uns MacNeil später sehr ehrlich, offen und unverblümt: Während der letzten vier Jahre, als die Songs zu Day Fever entstanden sind, ging es ihr nicht sonderlich gut. Sie hatte mit starken Selbstzweifeln und Ängsten zu kämpfen und war ausserdem viel alleine, was ihr, laut eigenen Angaben, nicht wirklich gut bekommen ist. Es ist also kein Wunder, dass die Lieder auf ihrem neusten Werk eine düstere und melancholische Grundstimmung ausstrahlen. Nichts desto trotz wurde das neue Material dann in einer Rekordzeit von nur 10 Tagen aufgenommen. Die Gründe dafür erläuterte MacNeil ebenfalls, musste aber etwas ausholen: Vor den Aufnahmen zum Album war sie völlig festgefahren. Durch den langen und schwierigen Entstehungsverlauf der Songs und die vielen Unsicherheiten, die sie in dieser Zeit begleitet haben, war sie gefangen in ihrem eigenen Perfektionismus und verstrickte sich in Details und Unwichtigkeiten. Zusätzlich stand für sie die Frage im Raum, ob es wirklich sinnvoll war, für die Aufnahmen nach San Francisco zu fliegen um dort mit einem ihr noch fremden Produzenten, John Vanderslice, sowie neuen Musikern zu arbeiten.
All diese Zweifel wurden dann aber vom erfahrenen und routinierten Vanderslice beseitigt. Er holte MacNeil aus ihrer Komfortzone heraus und zeigte ihr auf, dass sie so in ihrer Arbeit mit Day Fever nicht weiterkommen würde. Er liess sie, so die Aussage von MacNeil, alles nur einmal einspielen und sie durfte danach nicht einmal reinhören, was die Aufnahmezeit natürlich um ein Vielfaches beschleunigte. Seine Theorie war folgende: Singst du einen Song einmal oder zweimal, dann bist du noch mit Leidenschaft und Frische dabei. Singst du einen Song drei, vier, fünf Mal, dann ist diese Frische und Leidenschaft bereits weg. Für MacNeil war es also laut eigenen Angaben eine absolute, zum Glück positive, Überraschung, die fertigen Songs danach zu hören. Sie erwähnte auch, dass es für sie ein ganz wichtiger Lernprozess war, mit Vanderslice zusammen zu arbeiten und dass es ihr dadurch auch schon wieder viel besser geht, da sie ganz neue Blickwinkel auf ihre Arbeit erlangen konnte.
Dass sich die Arbeit mit Vanderslice wirklich gelohnt hatte, zeigte sich am Konzert spürbar. Die sonst so verspielte und liebliche, manchmal opulente Musik von Dear Reader musste einer reduzierteren Form weichen, die jedoch nicht minder liebevoll und ausgeklügelt daherkommt. Die neuen Songs sind Juwelen, die sich jedoch erst aufs zweite, genauere Hinhören zu solchen entpuppen. Und obwohl die Setlist an diesem Abend die neueren Songs in den Vordergrund stellte und sie es somit ihrem Publikum nicht gerade einfach machten, war es ein durchwegs ausgewogenes, spannendes und beglückendes Konzert. Die Handvoll Songs von Vorgängeralben wie „Rivonia“ und „Replace Why With Funny“ brachten erfrischende Abwechslung in den Konzertverlauf. Allem voran war es aber einfach nur eine riesige Freude, diese fantastischen Musikerinnen auf der Bühne live zu erleben. Man wurde vom ersten Ton an in den Bann dieser träumerischen und intensiv gefühlvollen Indie-Welt gezogen und konnte sich nicht mehr daraus befreien, bis MacNeil schliesslich noch alleine an der Gitarre die allerletzte Zugabe, ein Cover von Bruce Springsteen’s „Dancing in the Dark“, zu Ende gespielt hatte.
Herzlichsten Dank, liebe Cherilyn, für dieses überwältigende Konzert und das spannende und aufschlussreiche Gespräch. Wir freuen uns schon sehr auf deine weiteren Projekte.
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